Die Kölner Künstlerin Nora Schattauer (*1952) hat den Dialog mit dem fotografischen Werk von Alfred Ehrhardt seit jeher implizit geführt. Wie Ehrhardt setzt sie sich mit allgemeingültigen, immer wiederkehrenden Formprinzipien in der Natur auseinander und geht mit naturwissenschaftlicher Systematik vor. Ihre mit vielfältigen Materialien entwickelten Arbeiten visualisieren Formanalogien, die sich in verschiedenen Medien ausbilden. Dabei gilt ihr Augenmerk dem Kräftefluss von Naturkonstruktionen, den osmotischen Bewegungen im Mikrobereich, dem Fließenden. Mit der Ausstellung Optische Mitte beschäftigt sie sich explizit mit Alfred Ehrhardts bekanntester Bildserie Das Watt.
Gezeigt werden Blindzeichnungen auf Kohlepapier, Fotogramme, Fotografien, so genannte Silberblätter, bei denen mit der Pipette aufgetragene Salzlösungen chemisch miteinander reagieren, sowie eine Auswahl exklusiver Künstlerbücher.
Schattauers Zeichnungen durch Kohlepapier wurden unmittelbar durch Alfred Ehrhardts abstrakte Aufnahmen von Sandstrukturen im Watt inspiriert und entstanden nach Beobachtungen am Meeresstrand. Ihre Blindzeichnungen sind vor dem geistigen Auge entstandene ästhetische Versuche, die scheinbaren Gegensätze von menschlichem Geist und untergeordneter Natur buchstäblich ineinander fließen zu lassen. Sie zeigen Bögen, die immer neu ansetzen, sie spüren der Einwirkung von Kräften nach, den Entwicklungen von fließenden Bewegungen in formbarem Material. Und sie gehen der Frage nach, wie Wahrnehmung funktioniert, während durch einen bestimmten, intuitiv geführten Formungsprozess eine abstrakte Struktur entsteht. Bei der Blindzeichnung verfolgt das Auge einzelne Linien, obwohl das Bewusstsein gleichzeitig das Ganze überschaut. Im Bild inbegriffen ist das Verständnis dafür, dass die Wahrnehmung des Meeres oder des Meeresbodens im Watt stets zwischen zwei Blickarten pendelt: der horizontale, imaginative Blick in die Ferne und der auf den Boden gerichtete, analytische Blick, welcher die Strömungen und Strukturen im Sand beobachtet.
Gleichzeitig zeigen die Fotogramme und Fotografien von Nora Schattauer Fließprozesse, die fotografische Analogien zu den Tropfenformen der Silberblätter bilden. Zur Herstellung der Silberblätter werden vergleichbar der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie Silber und Salz dem Licht ausgesetzt und zur Herausbildung spezifischer Farbwerte angeregt. Salze sind – im Gegensatz zu Pigmenten – vollständig in Wasser lösliche Farbstoffe. Zuerst wird verflüssigtes Silbernitrat, später eine Ammoniumchloridlösung per Pipette auf ein sehr offenfaseriges, japanisches Chromatographie-Papier getropft, das aufgrund seiner sich unter Aufnahme von Flüssigkeit ausdehnenden Struktur am Herstellungsprozess beteiligt wird, ohne dass die Künstlerin diesen Verlauf vollständig kontrollieren könnte. Das Resultat variiert zwischen den extremen Gegensätzen einer präzisen, Assoziationen an Zellstrukturen hervorrufenden Anordnung in Gittern und Rastern und asymmetrischem Chaos, je nachdem, wie gleichmäßig oder zufällig die Künstlerin bei der Verteilung der Flüssigkeit vorgegangen ist. Diese »visuellen Experimente« sind Bilder, die jene zwischen anorganischen Materialien auftretenden Fließkräfte veranschaulichen und somit einem Lebendigkeitsprinzip in der Natur nachspüren, wie es auch für Alfred Ehrhardts fotografische Arbeiten charakteristisch ist.
»Es handelt sich gleichsam um einen Bildprozess, der aus der Tiefe seiner Sichtbarkeit entgegen wächst. Die Bildoberfläche, soweit sie denn vorhanden ist, erscheint als untrennbare Einheit von Material und seiner völligen substantiellen Durchdringung. Dieser Prozess ist Gleichnis für das künstlerische Schaffen und darüber hinaus für alle Denkungsart, die sich von der Oberfläche weg tieferen Schichten zuwendet. Erst hier entsteht, wie die Bilder von Nora Schattauer ausweisen, Ordnung, Harmonie, etwas, was wir Schönheit nennen und was letztendlich als utopischer Begriff nach einem Gleichklang zwischen der Seele und der Natur, nach der Einheit von Geist und Materie Ausschau hält.« Eugen Blume, in: Nora Schattauer. Silbern, Revolver Publishing 2011.