Biografie
Alfred Ehrhardt (1901-1984) war ein universal talentierter Künstler. Er war gelernter Organist und Chorleiter, dann Lehrer für Musik und Kunst an einer reformpädagogischen Schule, und schließlich Kunstpädagoge und Maler, bevor er Fotograf und Kulturfilmer wurde.
Nach einem Aufenthalt am Dessauer Bauhaus im Wintersemester 1928/29, wo er von Josef Albers, Wassily Kandinsky, Paul Klee und Oskar Schlemmer entscheidend geprägt wurde, übertrug er das Konzept des Bauhaus-Vorkurses auf seinen Kunstunterricht mit den Kindern und Jugendlichen von der ersten Klasse bis zum Abitur. Basierend auf dieser experimentellen Erfahrung wurde er 1930 an die Landeskunstschule Hamburg berufen, wo er den ersten Vorkurs für Materialkunde außerhalb des Bauhauses einrichtete. Nachdem er aufgrund seiner modernistischen Kunstauffassung durch die Nationalsozialisten 1933 vom Hochschuldienst entlassen wurde, wandte er sich der Fotografie und dem Film zu.
Alfred Ehrhardt gilt als herausragender Vertreter der Fotografie der Neuen Sachlichkeit. Mit der Veröffentlichung seiner mehr als 20 Fotobücher zählt er zu den erfolgreichsten Fotografen unter den ehemaligen Bauhaus-Künstlern. Seine an die Avantgarde der 1920er-Jahre angelehnten »absolut künstlerischen Filme« von herausfordernder Modernität stellen ihn in die Reihe der Altmeister des Kultur- und Dokumentarfilms. Alfred Ehrhardt gilt als der »bedeutendste deutsche Nachkriegs-Kulturfilmschöpfer« und erhielt für seine über 50 Filme zahlreiche nationale wie internationale Auszeichnungen, darunter 4 Bundesfilmpreise.
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Musik
Alfred Franz Adolf Ehrhardt wird am → 5. März 1901 in Triptis geboren. Seine Mutter erweckt mit ihrer Klavierleidenschaft das musikalische Interesse ihres Sohnes. Er besucht die Volksschule Triptis, die Realschule Weida und das Realgymnasium in Gera, anschließend absolviert er → 1921 ein Orgelstudium am Seminar Weißenfels.
Reformpädagogik
Von → 1922 bis 1924 unterrichtet Ehrhardt Gesang an einer Schule in Bergedorf bei Hamburg. Er führt Orgelkonzerte im norddeutschen Raum auf und schreibt eigene, moderne Kompositionen. Es folgt ein freies Studium der bildenden Künste in Gera und Hamburg. Ab → 1924 arbeitet er als Lehrer für Musik, Zeichnen und Gymnastik am Landerziehungsheim Gandersheim, einer progressiven Gründung der jüdischen Reformpädagogen Dr. Max und Gertrud Bondy. Seine Auftrittstätigkeit als Organist bei Konzerten führt er derweil fort. Sein malerisches, zeichnerisches und grafisches Werk aus jener Zeit weist expressionistische und neusachliche Einflüsse auf. → 1926/27 malt er die Krypta der Klosterkirche in Lamspringe mit 14 figürlich-dekorativen Wand- und Deckenmalereien aus, die von den Nationalsozialisten 1938 zerkratzt und weiß übertüncht werden. Sechs Deckengemälde sind heute wieder freigelegt und restauriert.
Bauhaus Dessau
Im Wintersemester → 1928/29 wird Ehrhardt als Student und Hilfslehrer ans Dessauer Bauhaus geschickt. Dort studiert er bei Josef Albers (Materialstudien im Vorkurs) und Wassily Kandinsky (Malerei und Grafik), welcher seine Arbeiten schätzt und mit dem er eine freundschaftliche Beziehung pflegt. Er hält einige Vorträge und arbeitet in der Bühnenabteilung von Oskar Schlemmer, für dessen »tanzmatinéen« er auch als Musiker beiträgt. In jene Zeit fällt auch die erste Beschäftigung mit der Fotografie. Als er nach dem Dessau-Aufenthalt seine Lehrtätigkeit in Gandersheim wieder aufnimmt, überträgt er das kunstpädagogische Konzept der Bauhaus-Vorkurse auf die Arbeit mit seinen Schülern. Der Einfluss des Bauhauses schlägt sich auch seinem eigenen malerischen und zeichnerischen Werk nieder. → 1929 zieht das Landerziehungsheim nach Marienau-Dahlenburg bei Lüneburg.
Landeskunstschule Hamburg
Im Oktober → 1930 wird er durch Max Sauerlandt an die Landeskunstschule Hamburg berufen, wo er eine Vorklasse einrichtet, deren Aufgabe das Studium von Materialeigenschaften ist. Im Februar → 1931 findet die erste und zu Lebzeiten einzige Ausstellung seiner Gemälde, Zeichnungen und Grafiken im Kunstverein Hamburg statt. Seine Orgelkonzerte in der Reformierten Kirche Ferdinandstraße finden große Beachtung. Er heiratet seine Schülerin Marie Burchard, die mütterlicherseits der Familie Warburg entstammt. → 1932 erscheint sein Buch Gestaltungslehre. Die Praxis eines zeitgemässen Kunst- und Werkunterrichts, das zu den wichtigen Werken der Reformpädagogik und Kunsterziehung des 20. Jahrhunderts zählt. Im selben Jahr wird auch sein erster Sohn Klaus Ludwig geboren.
Das Watt
Im April → 1933 wird Ehrhardt von den Nationalsozialisten aufgrund seiner modernen Kunstauffassung entlassen. Er wird in die Reichskammer der bildenden Künste aufgenommen. Ende des Jahres wird die Ehe mit seiner ersten Frau geschieden, welche mit dem gemeinsamen Sohn 1938 nach Australien auswandert. Von Dezember 1933 bis Ende November 1936 ist er als Organist und Kantor in der St. Gertrud-Kirche in Cuxhaven-Döse angestellt. In diese Zeit fallen seine ersten Fotoexkursionen ins Watt zwischen den Inseln Scharhörn und Neuwerk. Er fotografiert mit einer Mittelformatkamera für 6 x 9 cm-Zelluloid-Negative.
Die Kurische Nehrung
Im Sommer → 1934 unternimmt er eine Fotoreise auf die Kurische Nehrung. Für das Wintersemester 1934/1935 wird Ehrhardt an die Volkshochschule Askov in Süderjütland (Dänemark) berufen und lässt sich für diesen Zeitraum beurlauben. Er bietet seine Fotografien Zeitungen und Zeitschriften an, so ab → 1935 Atlantis, später auch Westermanns Monatsheften sowie Volk und Welt. Im Mai → 1936 organisiert der Hamburger Kunstgewerbeverein seine erste Fotografie-Ausstellung mit über 100 Wattfotografien im Haus am Zoo. Die Ausstellung bereist mehrere deutsche Städte und der Hamburgische Staat erwirbt einige Fotografien. An der Ausstellung Deutschland in Berlin ist er ebenfalls beteiligt. Im Sommer lernt Ehrhardt auf der Insel Neuwerk seine zukünftige Frau Lieselotte Dannmeyer kennen. Im März → 1937 wird die Ausstellung Wind und Sand im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg eröffnet, in der Aufnahmen der Kurischen Nehrung gezeigt werden. Sie wandert ebenfalls durch Deutschland.
Filmstart
Der erste Bildband Das Watt wird publiziert und die erste Filmarbeit im Watt vor Cuxhaven beginnt. Ehrhardt wird neben den Filmaufnahmen auch immer fotografieren. → 1938 heiratet er Lieselotte Dannmeyer, die Hochzeitsreise gestalten sie als 2-monatige Film- und Fotoexkursion nach Island. Erste fotografische Aufnahmen der Gehäuse von Muscheln und Schnecken folgen. Seine Fotografien werden bis → 1939 in London, Paris, Stockholm und Kopenhagen gezeigt. Bis Kriegsende erscheinen 13 Bildbände, darunter Island und Kristalle (beide 1939) sowie Muscheln und Schnecken (1941), weiterhin etliche Artikel mit seinen Fotografien. Parallel zu seinen Ausstellungen hält er abendfüllende Diavorträge. Sein erster Film Urkräfte am Werk (verschollen) über das Wattenmeer wird von der amerikanischen Filmgesellschaft Paramount erworben und am 26. März im Waterloo-Theater Hamburg aufgeführt.
1939 bis 1945
→ 1940 bereist Ehrhardt Flandern, wo er Fotos für den drei Jahre später publizierten Bildband Ewiges Flandern anfertigt und die Kulturfilme Leinen aus Kortryk und Flanderns germanisches Gesicht dreht, die → 1941 erscheinen. Ebenfalls stellt er den Expeditionsfilm Nordische Urwelt über Island fertig, der von der Tobis-Filmkunst vertrieben wird. → 1942 reist er im Auftrag der Deutschen Kulturfilmzentrale zu Aufnahmen für den nicht vollendeten Film Deutsche Kultur in Böhmen und Mähren. Sein Hamburger Haus wird bei Luftangriffen zerstört, doch sein fotografisches Werk entgeht der Vernichtung. Georg Hartmann, der Besitzer der Bauerschen Giesserei in Frankfurt am Main, stellt Ehrhardt sein Landhaus in Burgjoß im Spessart zur Verfügung, wo die Familie wenige Wochen nach der Geburt des Sohnes Jens einzieht und bis zur Wiederherstellung des Hamburger Hauses 1947 wohnen bleibt. Er dokumentiert Hartmanns umfangreiche Skulpturensammlung mit der Kamera (Alte Kunst, lebendig und Gotische Gesichter). Mithilfe eines ärztlichen Attests gelingt es ihm, zwei Einberufungsbefehlen 1942 und 1944 zu entgehen. Beauftragt vom dortigen »Bund tätiger Altstadtfreunde« fotografiert Ehrhardt → 1943 kurz vor den zerstörerischen Luftangriffen die historische Altstadt Frankfurts für den Bildband Alt-Frankfurt, der 1950 veröffentlicht wird.
XI. Biennale Venedig
→ 1947 publiziert er Zwischen Schlei und Eidermündung. Eine alte Welthandelsstrasse des Nordens. Nach der Rückkehr in sein Hamburger Haus gründet er → 1948 die eigene Filmproduktionsfirma »Alfred-Ehrhardt-Film«. Unter Lizenzgabe der britischen Besatzung, die ihm Rohfilmmaterial zur Verfügung stellt, entsteht sein erster Nachkriegsfilm Ad Dei Honorem. Hans Brüggemanns Bordesholmer Passionsaltar von 1521 im Dom zu Schleswig, der → 1949 auf den IX. Internationalen Filmfestspielen Venedig gezeigt und trotz des noch großen Vorbehalts im Ausland gegen deutsche Filme zu einem großen Erfolg wird. Der zweiteilige Film Ernst Barlach wird → 1950 auf der XI. Biennale in Venedig gezeigt und der erste Teil Der Kämpfer mit dem 1. Preis ausgezeichnet. Für jenen ersten Teil erhält er auch seinen ersten Bundesfilmpreis.
Kulturfilm
Sein 15-minütiger Experimentalfilm Spiel der Spiralen wird → 1952 als »wertvollster Kulturfilm« mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet. Im selben Jahr fertigt er im Auftrag der Hamburger Handelskammer für die Veröffentlichung Hamburg als Industrieplatz Industrieaufnahmen an. In Portugal dreht Alfred Ehrhardt den abendfüllenden Film Portugal, unbekanntes Land am Meer sowie den Kurzfilm Das steinerne Antlitz Portugals. Architektur einer großen Vergangenheit, beide von der Filmbewertungsstelle als »besonders wertvoll« prämiert. → 1954 entsteht der abendfüllende Dokumentarfilm Schicksal und Vermächtnis. Soldatengräber vom Nordkap bis Nordafrika im Auftrag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der wiederum mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wird. → 1955 erhält er die Bundesfilmprämie für seinen abendfüllenden Künstlerfilm Begnadete Hände. Tilman Riemenschneider. Seine Zeit. Sein Leben. Seine Werke. Im Auftrag der Hamburger Firma Reemtsma dokumentiert Ehrhardt in Die Welt des Tabaks. Kunst und Technik der Cigarettenherstellung die Tabak-Produktion in Griechenland, der Türkei, den USA und in Rhodesien (dem heutigen Simbabwe). Ehrhardt fotografiert immer parallel zu seinen Filmproduktionen und es entstehen umfassende Fotografie-Konvolute, die in einigen Fällen in eine Buchveröffentlichung münden.
Elektronische Klänge
→ 1956 gewinnt sein innovativer Kurzfilm Tanz der Muscheln mit elektronischen Klängen von Wilhelm Keller und Bernhard Aign beim X. Internationalen Film-Festival Edinburgh den »Diploma of Merit«; drei Jahre später auf der IV. Rassegna del Film Scientifico der Universität Rom die »Targa d’oro«. → 1958 bis 1961 vollendet er fünf farbige Portugalfilme, die sich traditionellen Erzeugnissen dortiger Produktion widmen: Korkherstellung, Fischfang und Portwein. Für seine Filme über die documenta II Kunst unserer Zeit I (Skulptur) → 1959 und Kunst unserer Zeit II (Malerei) → 1960 wird er vom Begründer der documenta Arnold Bode beraten. In jenem Jahr arbeitet er auch erstmals mit Oskar Sala zusammen, der seine elektronische Komposition für den Skulpturenteil auf dem von ihm entwickelten Mixtur-Trautonium einspielt. Weitere Reisen nach Island und erstmals nach Grönland fallen ebenfalls in diesen Zeitraum. → 1962 entstehen fünf Islandfilme, u.a. Gletscher und ihre Ströme. Impressionen aus der Urlandschaft Islands, bei dem sein Sohn Jens assistiert, sowie zwei Filme über Grönland. → 1964 entsteht der experimentelle Film Korallen – Skulpturen der Meere, wieder mit elektronischen Klängen von Oskar Sala.
Later Prints
Es folgen zwei ZDF-Produktionen über die Bronzetür und die Bernwardsäule in Hildesheim, 1967 erscheint sein Buch Die Bronzesäule des Bernward von Hildesheim. → 1965 produziert Alfred Ehrhardt zwei weitere Portugalfilme, Im Wald der roten Bäume. Korkernte in Portugal und Das Boot von Torreira, der u.a. → 1966 den »Prix de qualité« des Centre National de la Cinématographie erhält, der höchsten Prämienauszeichnung Frankreichs. Sein Buch Das Watt wird unter dem Titel Das Wattenmeer. Formen und Strukturen → 1967 wiederveröffentlicht, ebenso Muscheln und Schnecken unter dem Titel Geprägte Form → 1968. Als Druckvorlagen für beide stellt er Neuabzüge im Format 30 x 24 cm her. Für den Film Norddeutsche Barockorgeln wird Alfred Ehrhardt im Jahr → 1968 nochmals vom ZDF beauftragt, sowie → 1969 für Der Komponist und seine Landschaft. Edvard Grieg und Norwegen und → 1970 für Süddeutsche Barockorgeln. 1973 entsteht sein letzter Kulturfilm Masken und Figuren. Schwarzafrikas kostbares Gut. → 1979 wird er einstimmig zum Ehrenmitglied des Bundesverbandes deutscher Film- und AV-Produzenten ernannt.
Galerie Wilde
Die Begegnung mit dem Sammlerehepaar Ann und Jürgen Wilde → 1980 markiert den Beginn der Wiederentdeckung seines fotografischen Frühwerks. → 1981 erhält Ehrhardt eine Einzelausstellung mit Aufnahmen von Conchylien in der Kölner Galerie Wilde, die das Portfolio Muscheln und Schnecken mit 12 signierten Fotografien herausgibt. → 1982 folgt dort die Ausstellung Bilder vom Norddeutschen Wattenmeer. → 1983 sind Ehrhardts Fotografien in der umfassenden Ausstellung Bauhausfotografie des Instituts für Auslandsbeziehungen Stuttgart vertreten. Die Fotogaleristen Rudolf Kicken und Hendrik Berinson werden bei Alfred Ehrhardt vorstellig. Seitdem wird sein fotografisches Werk zunehmend wiederentdeckt.
Am → 29. Mai 1984 stirbt Alfred Ehrhardt in seinem Hamburger Haus in der Köppenstraße 38.