Die Vorstellung des Waldes ist seit Jahrhunderten imaginär. Ins kollektive Gedächtnis hat er sich nachdrücklich durch märchenhafte und mythische Erzählungen eingeschrieben. Hierin begreift sich die bildhafte Wesenheit des Waldes zumeist als ein psychisches Rückzugsareal, in dem kindliche Sehnsüchte und Ängste überdauern können. Doch inwieweit überdeckt die regressive Folie gegenwärtig unsere zivilisatorische Perspektive auf den Wald? Was bedeutet es konkret, was erkennen wir, wenn wir den Wald aufsuchen?
Michael Lange ist in seinem aktuellen Buch- und Ausstellungsprojekt Wald diesen Fragen nachgegangen. Über drei Jahre hinweg hat der in Hamburg lebende Fotograf zu den Zeiten der Dämmerung Deutschlands Wälder durchstreift. Mit sicherem Gespür hat er dort jene Rückzugsorte ausfindig gemacht, an denen sich die Imaginationen der Kindheit mit nüchternen Naturdokumenten zu eindrücklichen visuellen Prägungen verdichten. Seine Fotografien entstanden abseits der Wege und Wanderpfade, oftmals im Dickicht und dichtem Unterholz. Sie zeugen vom verspäteten Wagnis des erwachsenen Ich, endlich an jenen Ort zu gelangen, nach dem sich das kindliche Gemüt über all die Jahre gesehnt hat. Die Fotografien von Michael Lange sind Folien, sie lassen sich durchaus als Resultat einer inneren Bewegung verstehen. Bestimmend für die Arbeiten ist die immer wieder gestellte Frage, wie Stille im Bild entstehen kann.
Allerdings sind die querformatigen Farbaufnahmen ebenso Dokumente einer nüchternen äußeren Erkundung. Langes Waldszenerien zeichnen sich im Sinne einer Vergewisserung als betont zeitlose Naturaufnahmen aus, die gleichermaßen mythisch wie real wirken. Atmosphärisch sind seine Motive durchdrungen von einer tiefen Befriedung und Erhabenheit. Dabei zählt es zu den Eigentümlichkeiten der Bilder, dass sie in der Anschauung ein Geheimnis bewahren. Sie wollen offenkundig nichts enthüllen oder verbergen. Auch verharren sie nicht im Kalkül der Impression. Stattdessen schöpfen sie aus den Momenten des schwindenden oder erwachenden Lichts, das mit der Dämmerung einhergeht, ein fast zärtlich zu nennendes Konzentrat. Düster und gleichsam gegenwärtig tritt das Waldreich aus ihnen hervor.
Im Wald, sagte einmal ein Gelehrter, versagen die subjektiven Kategorien des Menschen. Aus dieser Irritation resultiert zwangsläufig eine erhöhte Wachsamkeit. In den fotografischen Bildern von Michael Lange ist aus diesem potenziert wachsamen Erleben eine künstlerische Strategie erwachsen. Sie ist wohl am ehesten mit jener Erfahrung vergleichbar, für die die Dichter der deutschen Romantik ein eigenes Wort ersannen: Waldeinsamkeit. (Text: Prof. Dr. Christoph Schaden)