Durch zahlreiche Ausstellungen und Buchveröffentlichungen seit den siebziger Jahren nimmt die Pflanzenfotografie der Neuen Sachlichkeit insbesondere mit den Aufnahmen von Albert Renger-Patzsch und Karl Blossfeldt einen festen Platz in der Fotogeschichte ein. Der Fotografie von Kristallen hingegen wurde bislang nur wenig Beachtung geschenkt. Die Alfred-Ehrhardt-Stiftung widmet sich diesem Thema mit der Ausstellung Lebendiger Kristall. Die Kristallefotografie der Neuen Sachlichkeit zwischen Ästhetik, Weltanschauung und Wissenschaft, mit etwa 60 Vintage-Prints von Albert Renger-Patzsch, Aenne Biermann, Fred Koch, Lotte Jacobi, Alfred Ehrhardt, Carl Strüwe, August Kreyenkamp und Heinrich Falck. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Hatje Cantz Verlag mit Textbeiträgen von Christiane Stahl (Alfred-Ehrhardt-Stiftung), Olaf Breidbach (Ernst Haeckel Haus Jena) und Stefanie Odenthal.
Zeitgleich ist die Alfred-Ehrhardt-Stiftung mit der Ausstellung Claudia Fährenkemper: Habitus zu Gast im benachbarten »Forum für Fotografie«. Fährenkemper (*1959) wurde durch ihre im Rasterelektronenmikroskop angefertigten Aufnahmen von Käferköpfen, Amphibienlarven und Früchtesamen bekannt. Die Ausstellung mit dem Titel Habitus – der mineralogischen Bezeichnung für die Größe und Gestalt von Kristallen – zeigt ihre neue Serie mit großformatigen Aufnahmen von Salzkristallen. Anlässlich dieser Ausstellung erscheint ebenfalls im Hatje Cantz Verlag der englisch/deutsche Band Claudia Fährenkemper: Photomicrographs, der alle Werkserien abbildet, mit Textbeiträgen von Ann Thomas (Kuratorin für Fotografie, National Gallery of Canada, Ottawa) und Ludger Derenthal (Leiter des Museums für Fotografie der Staatlichen Museen zu Berlin).
Mit dieser ersten Doppel-Ausstellung macht sich die Alfred-Ehrhardt-Stiftung die räumliche Anordnung im »Forum für Fotografie und Kunst« zu Nutze, das Anfang 2003 eröffnet wurde. Neben der Alfred-Ehrhardt-Stiftung, die ihre Räumlichkeiten mir der »Stiftung Ann und Jürgen Wilde« teilt, sind dort das »Forum für Fotografie« (www.forum-fotografie.info) sowie die Galerien Thomas Zander (www.galeriezander.com) und Rolf Hengesbach beheimatet. Die parallelen Präsentationen sollen auch in Zukunft erlauben, Themen aus historischer und zeitgenössischer Perspektive zu untersuchen.
Mitte der zwanziger Jahre suggerierte der Vergleich von Karl Blossfeldts und Albert Renger-Patzschs Pflanzenfotografien mit Architektur- und Technikformen ein Natur und Kunst einheitlich zugrunde liegendes Formprinzip. Das neuromantische Ideal der »Organisierung des Anorganischen« weiterführend, gingen die Fotografen der Neuen Sachlichkeit von der organischen Form der Pflanze aus, um mit der Kristallefotografie wenige Jahre später in die Welt der Anorganica vorzudringen. Die Kristallefotografie transportierte die naturphilosophische Botschaft von der »Beseelung« anorganischer, »toter« Naturdinge. Der Lebensreformer und »Biosoph« Ernst Fuhrmann mit seinen Fotografen Albert Renger-Patzsch, Fred Koch und Lotte Jacobi widmete sich nach seiner universalen Botanik der »Organisierung der Kristallographie«. Auch andere renommierte neusachliche Fotografen wie Aenne Biermann, Paul Wolff oder Paul Dobe entdeckten nach der Welt der Pflanzen die Welt der Minerale und Kristalle. Carl Strüwe und August Kreyenkamp drangen in den mit bloßem Auge unsichtbaren Mikrokosmos der kristallinen Struktur vor. Dabei erstellte kein neusachlicher Fotograf eine solch umfangreiche »fotografische Kristallografie« wie Alfred Ehrhardt, dessen künstlerisches Gesamtwerk die Lebendigkeit anorganischer Materie propagierte. Mit Ehrhardt gelangte die spät-neusachliche Kristallefotografie zu ihrem End- und Höhepunkt. Wenn die Pflanzenfotografie noch der blumigen Unschuld des Jugendstils verpflichtet blieb, so wird die Kristallefotografie der Neuen Sachlichkeit zur Metapher einer Verhärtung des bioromantisch-vitalistischen Sehnsuchtsbilds nach Ganzheit.