Unmittelbar nach dem Fall der Mauer begann der Ostberliner Fotograf Joachim Richau (*1952) seine regelmäßigen Arbeitsaufenthalte in Skandinavien. Seit den frühen 2000er Jahren beschäftigte er sich verstärkt mit der schwedischen Landschaft. Mehr als zehn Jahre lang hatte Richau in Dalarna ein Atelier im Waldhaus von Freunden, weit entfernt von bewohnter Gegend, wohin er sich jedes Jahr zu mehrmonatigen Aufenthalten zurückzog. Dort entstand neben unzähligen weiteren Bildfolgen und Einzelbildern auch der Zyklus FRAGMENT oder die Gegenwart des Zweifels, dem die Alfred Ehrhardt Stiftung nun eine eigene Ausstellung widmet.
Auf seinem Weg von einer noch dokumentarisch geprägten Fotografie der 1980er und 90er Jahre in Richtung eines abstrakteren, weniger narrativen Bildausdrucks wurde Joachim Richau unter anderem von Alfred Ehrhardt bestärkt: Seine Detailaufnahmen von Sandstrukturen im Watt oder isländischen Lavaformationen und vor allem sein auf wenige Bildelemente reduziertes malerisches und zeichnerisches Werk finden Eingang in Richaus Bilddenken. So erreichen seine extremen Nahaufnahmen eines schneebedeckten Steinbruchs einen Abstraktionsgrad, der seinen Bildern eine malerische Qualität verleiht. Fragmentarisch löst er mit seinem Blick die Schichten des Gesteins aus ihrem Umfeld und setzt den Fokus auf ihre Strukturen, so dass ihre grafische Prägnanz hervortritt. Seine intensive, unmittelbare und langjährige Auseinandersetzung mit der Struktur dieser Landschaft war zwingende Voraussetzung, um diese Bilder zu schaffen.
Das Leben und Arbeiten in der Abgeschiedenheit ermöglichte Richau eine Hinwendung zu sich selbst. Erst in der Kontemplation und Konzentration konnte er die Bilder zu sich finden lassen. »In Schweden war ich zu Hause in der Fremde«, beschreibt der Fotograf seine Erfahrung, »Ich war dort viel näher bei mir als je zuvor. Fern dem Vertrauten fühle ich mich wohl, bin ich ruhig. Und in der Ferne habe ich Distanz zum Gegenstand.«
Im Wort »Fragment« klingt etwas Verletzliches, Feines, Zartes an. Eine Fragmentierung geht mit einem Bruch einher. Der Steinbruch wird somit zum Sinnbild für die Verletzlichkeit des Massiven, des scheinbar Unverrückbaren. Ebenso wie die Fragilität und Sensibilität finden auch die Brüche, derer es in seiner Biografie viele gibt, in Richaus Bildern einen Ausdruck. Für ihn ist der Bildgegenstand nicht der konkrete Steinbruch, sondern die »absolut selbstverständliche Erhabenheit und Zeitlosigkeit der Natur als Ort menschlichen Lebens«.
Das Buch FRAGMENT oder die Gegenwart des Zweifels ist im Kehrer Verlag erschienen.
Die Ausstellung ist Teil der Retrospektive Joachim Richau – WERK WANDEL
in der Stadtgalerie Kiel, dem Brandenburgisches Landesmuseum für Moderne Kunst Cottbus und dem Leonhardi-Museum Dresden.