Seit Gründung der Alfred Ehrhardt Stiftung im Jahr 2002 liefen die Vorbereitungen für diese Ausstellung, die erst durch einen Ankauf sowie eine Schenkung ermöglicht wurde: Die ausschließlich aus eigenen Beständen bestückte Zusammenstellung von 70 Vintageprints aus der Serie Das Watt (1933–1936) konzentriert sich auf Ehrhardts fotografisches Erstlingswerk, das zu den herausragenden Bildleistungen der Avantgarde-Fotografie der 1930er Jahre zählt. Sie ist Ausgangspunkt für das gesamte preisgekrönte fotografische und filmische Schaffen dieses am Dessauer Bauhaus geschulten, vielfältigen Künstlers und bildet die »crème de la crème« seines fotografischen Werkes. Die künstlerische Qualität dieser Serie sucht auch unter den Meistern der Fotografie der Neuen Sachlichkeit Ihresgleichen.
Einen idealen Anlass bietet die Neuauflage des Buches Das Watt von 1937 als exklusive Faksimile-Auflage der Éditions Xavier Barral. Die Publikation ist eine Ode an die Natur und ein Meisterwerk der Buchkunst, das im Jahr 2004 nicht von ungefähr im reich bebilderten Band über Fotobücher The Photobook. A History von Martin Parr und Gerry Badger auf internationaler Ebene geadelt wurde: »This is both an attractively designed and finely printed book – an island of tranquil beauty in a cultural sea that was becoming increasingly barbaric.«
Alfred Ehrhardt (1901–1984) war ein medialer Grenzgänger. Er war Organist, Chorleiter, Komponist, Maler und Kunstpädagoge, bevor er Fotograf wurde. Nach einem Aufenthalt am Dessauer Bauhaus 1928/29, wo er bei Josef Albers studierte und bei Wassily Kandinsky und Oskar Schlemmer hospitierte, leitete er an der Landeskunstschule Hamburg den ersten Vorkurs für Materialkunde außerhalb des Bauhauses. Erst nach der Entlassung aus dem Hochschuldienst durch die Nationalsozialisten 1933 wandte er sich der Fotografie und dem Film zu. In Cuxhaven, wo er sich in seinem ersten Beruf als Kirchenmusiker verdingte, entdeckte er im vorgelagerten Watt zwischen den Inseln Scharhörn und Neuwerk die Besonderheiten dieser wechselvollen Meereslandschaft. Ihn faszinierten die durch Wind und Wasser täglich neu entstehenden abstrakten Strukturen im Sand, die ihn an den Materialkundeunterricht erinnerten, wo seine Studenten »Struktur, Textur und Faktur« von Materie zu erfassen hatten. Es wurde ihm schnell bewusst, dass die Kamera das unverfänglich zu produzieren imstande ist, was zu malen verboten war. Statt zu Stift oder Pinsel zu greifen, »zeichnete« er nun die abstrakten Formen der Natur mit der Kamera. Mit Hilfe von Motivwahl, Perspektiveinstellung und Lichtregie überhöhte er die Schätze der »Künstlerin Natur« zu einer vom Menschen gestalteten Kunstform, die der Natur ebenbürtig sein wollte, ohne bloße Kopie zu sein.
Breitet man Alfred Ehrhardts Fotografien abstrakter Sandformen im Watt vor sich aus, drängt sich der Gedanke »Chaos und Struktur« auf. Der hier vom Künstler gewählte Bildausschnitt offenbart die immanente Schönheit des sich in so vielfältigen Formen darstellenden Naturgeschehens, während die Zusammenschau der Formvariationen die Verbindung von Mikro- und Makrokosmos erstellen soll. Er bringt System in die Strukturen und Ordnung in das Chaos der Natur, als wolle er die Welt mit seiner Technik begreifbar machen.
Alfred Ehrhardt war ein neusachlicher Neuromantiker, ein »Naturphilosoph mit der Kamera«, wie man ihn damals nannte. In seiner Serie »Das Watt« verbinden sich die Strukturexperimente des Neuen Sehens, der naturphilosophisch begründete, typologische Ansatz der Fotografie der Neuen Sachlichkeit, sein am Bauhaus geschultes Gespür für Komposition, Materialbeschaffenheit und Abstraktion mit einem von Kandinsky, Schlemmer und Klee beeinflussten weltanschaulichen Anliegen, Materielles ins Geistig-Kosmische zu transzendieren. In der Abwendung vom Chaos einer industrialisierten Welt, in der kontemplativen Konzentration auf nur von Himmel und Horizont begrenzte leere Landschaften und in der Fokussierung auf die verborgene Anmut und symmetrische Schönheit des natürlichen Mikrokosmos fand Ehrhardt hier zu höchster formaler Konsequenz von ergreifend schlichter Schönheit.