Nach dem Versterben von Alfred Ehrhardts Frau Lotte Ende 2005 wurde in ihrem Nachlass ein Fund gemacht, der für die Forschung zur Wirkungsgeschichte des Vorkurses am Bauhaus Dessau von größtem Interesse ist: Dort lagerten über 70 Glasnegative im Format 9 x 12 cm, die Alfred Ehrhardt zwischen 1930 und 1933 von den Arbeiten seiner Studenten an der Landeskunstschule Hamburg angefertigt hatte. Ehrhardt hatte im Semester 1928/29 am Bauhaus Dessau studiert und das im Vorkurs bei Josef Albers Gelernte an seine Studenten weitergetragen. Neben den Glasnegativen fand sich auch ein gebundenes Manuskript mit Kontaktabzügen, in dem Ehrhardt seinen Materialkundeunterricht beschreibt. Das Manuskript wurde um 1933 fertig gestellt, aber zur Veröffentlichung kam es nicht mehr. Ehrhardt wurde wie viele seiner der Avantgarde verpflichteten Kollegen von den Nationalsozialisten aus dem Hochschuldienst entlassen. Er sollte nie wieder unterrichten oder malen und widmete sich fortan der Fotografie und später dem Kulturfilm. In der Ausstellung werden die Negative zusammen mit modernen Digiprints, das Manuskript und weiteres Archivmaterial gezeigt, das die Modernität von Ehrhardts Materialkundeunterricht veranschaulicht.
In seinem kunstpädagogischen Programm schöpfte Ehrhardt aus Ittens Materiestudien, aus Laszlo Moholy-Nagys Von Material zu Architektur und aus Wassily Kandinskys analytischem Zeichenkurs. Mit den so genannten »Materialübungen« übernahm er Josef Albers’ innovativsten Beitrag zur Bauhaus-Pädagogik. Ehrhardts Studenten lernten die unterschiedlichsten Techniken kennen: Sie zeichneten nach Johannes Ittens Vorbild mit dem Graphitstift »Rhythmische Studien«, beschränkten sich Kandinskys analytischem Zeichenkurs folgend auf Dreieck, Quadrat, Rechteck und Kreis, arbeiteten mit Frottage, Fadenzeichnung, Pauspapier und Spritztechnik, stellten aus Zeitungen, Tapeten oder Staniolpapier Collagen her oder fertigten Webarbeiten mit Krepppapier, Pergament, Stroh und anderen Materialien. Ittens Materiestudien, Moholy-Nagys Übungen zur haptischen und optischen Sinnesschulung und Josef Albers’ Materialübungen folgend, ließ Ehrhardt in seinem Unterricht außer Ton, Stein, Holz und Gips auch Materialien wie Wellpappe, Drahtgewebe und Glas verwenden. Dabei stellte er sein vitalistisches Verständnis von der Lebendigkeit der Materie in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Überlegung: Seine Schüler sollten begreifen, dass Materie »eine dauernd lebendige außermenschliche Erscheinung mit eigenen Lebensgesetzen« sei.
Wie Albers forderte er »Material- und Arbeitsökonomie« sowie »Sparsamkeit und Disziplin in der Materialverarbeitung« – das fertige Werk sollte ein Höchstmaß von Materialleistung und ein Mindestmaß von Materialaufwand darstellen. Beim Materialstudium wurden Papier, Wellpappe, Draht, Glas und Stroh durch Schneiden, Biegen, Falten oder Stapeln auf ihre immanenten Eigenschaften untersucht wie Stabilität, Tragfähigkeit, Elastizität oder Starrheit. So wurde etwa Papier aus einem Stück geschnitten und als plastische Konstruktion räumlich gesteigert, es entstanden »plastische Studien in Wellpappe«, »abstrakte Drahtplastiken« und »Balancestudien in Drahtgewebe«. Bei den Materialübungen wurden die Materialien kombiniert und als abstrakte, raumgreifende Komposition kontrastierend oder harmonierend zusammengestellt, um durch die unterschiedlichen Materialqualitäten das Erlebnis einer Leistungsergänzung oder auch Leistungssteigerung zu erfahren. Zentrales Anliegen war, ein Verständnis für Polarität und Kontrapunktik zu entwickeln und den Studenten das Prinzip der organischen Einheit gegensätzlicher Eigenschaften nahe zu bringen.