„Das Gebiet zwischen Schlei- und Eidermündung war bis ins frühe Mittelalter hinein unbebaut: Ödland und Urwald. Es war ein wild überflutetes Sumpf- und Moorgebiet, in dem bis hinauf zur Mitte der jütischen Halbinsel, dem heutigen Hollingstedt, das Ansteigen der Flut vom Westen, vom ‚Friesischen Ozean‘ her zu bemerken war“, begann Alfred Ehrhardt seine kulturhistorischen Erläuterungen im Bildband Zwischen Schlei und Eidermündung. Eine alte Welthandelsstrasse des Nordens, der 1947 im Verlag Hamburgische Bücherei erschien. Seefahrer hätten ab dem 8. Jahrhundert die günstig gelegenen Küstenplätze der Halbinsel genutzt, weil die tiefen Mündungseinschnitte von Schlei und Eider günstige Überquerungsmöglichkeiten für den Seehandel boten. Die Welthandelsstraße des Nordens zwischen Schlei und Eider verband nicht nur Südschweden mit England, sondern ganz Ostskandinavien und Rußland mit Nordwesteuropa und dem Mittelmeerraum. Die Waren und teilweise auch die Schiffe mußten auf nur wenigen Landkilometern transportiert werden. Infolge der sich verringernden Flußtiefe und der Befriedung des südlichen Ostseegebiets verlor der Handelsweg an Bedeutung. Etwa drei Jahrhunderte später nahm die Ware trotz des längeren Überlandwegs den Weg über Lübeck, und die Hanse bestritt schließlich den Ostseehandel allein.
Alfred Ehrhardts Bildband wird als „Zweiter Teil“ bezeichnet und zeigt den westlichen Abschnitt der Handelsstraße, wobei die historisch relevante Ost-West-Richtung beibehalten wird: von Hollingstedt über den Treene-Lauf mit Schwabstedt und Norder- und Südstapel bis nach Friedrichstadt und weiter über die Eidermündung zum offenen Meer. Der angekündigte erste Teil über den östlichen Abschnitt mit Schleswig und Dannewerk wurde aus unbekannten Gründen nie veröffentlicht. Die Sichtung der im Archiv erhaltenen Abzüge und des Negativmaterials läßt jedoch vermuten, dass Ehrhardt oder sein Verlag das Material für die angekündigte Veröffentlichung als nicht geeignet erachtete.
Nach
seiner ersten Fotoserie vom Watt und von der Kurischen Nehrung (1933-1938), wo
er eine der Neuen Fotografie der 20er Jahre verpflichtete Bildauffassung
vertrat, wählte Ehrhardt hier eine konventionellere Bildsprache. Er zeichnet
ein ländliches und kleinstädtisches Idyll mit historischer Tradition, in das
vermeintlich keine natürliche oder menschliche Katastrophe einzudringen vermag.
Die Menschen verweilen beim Gespräch auf der Straße und nehmen sich Zeit für
ihre alltäglichen Verrichtungen. Mit ausführlichem Gestus wird die Schönheit
des holländisch geprägten Stadtbilds von Friedrichstadt beschrieben. In seinen
Aufnahmen von den Priellandschaften der Westküste zeigt sich der Einfluß von
Albert Renger-Patzsch.
Die Tatsache, dass Ehrhardt für diesen Bildband Menschen portraitierte, erscheint vor dem Hintergrund seines Gesamtwerks, das vor allem Landschafts-, Skulptur- und Architekturfotografie umfaßt, ungewöhnlich. Für die Portraitreihe stellte er die Personen vor neutralen Hintergrund und fotografierte mit gleichbleibendem Aufnahmemodus. Im Bildband tragen drei Portraits die Bildunterschriften: „Friesischer Typ“, „Fälischer Typ“, „Schleswiger Typ“. Die kleinformatigen Portraits sind rückseitig mit Namen, Herkunftsort und Berufsbezeichnung versehen, die sich bei Kindern wohl auf die Eltern bezieht. Bei einigen Aufnahmen ist der Begriff „Angeln“ vermerkt (Angelsachsen?). Die Portraitserie vermittelt den Eindruck, dass Ehrhardt nach Merkmalen rassischer Zugehörigkeit suchte, diese Suche aber nicht zwingend im Zusammenhang der NS-Ideologie steht, sondern im Kontext der Rezeption von August Sanders Typologie der Berufsgruppen zu verstehen ist.
Zur Datierung der Fotografien:
Alfred Ehrhardts vierzehntes Fotobuch Zwischen Schlei und Eidermündung erschien 1947. Ehrhardt hatte nach der Bombardierung seines Hamburger Hauses 1942 mit seiner Frau und dem neugeborenen Sohn Jens fünf Jahre lang bei einem befreundeten Mäzen im Spessart gelebt, bevor er 1947 nach Hamburg zurückkehren konnte. Lieselotte Ehrhardt schließt eine Exkursion ihres Mannes nach Schleswig-Holstein in der Nachkriegszeit aus, weil ihn die Arbeit in Frankfurt festhielt und er selbst beim Wiederaufbau des Hauses nicht helfen konnte. So stellte sich bislang die Frage nach der Datierung der Fotografien.
Im Zuge der Ausstellungsvorbereitungen konnte nun der Nachweis erbracht werden, dass die Aufnahmen noch während des 2. Weltkriegs entstanden. Architektonische Veränderungen ließen sich nicht an den Fotografien fest machen. Aber ein alter Friedrichstädter wußte von einem der Portraitierten, dass er 1945 nicht mehr lebte. Da Ehrhardt zwei der Aufnahmen in der Zeitschrift ATLANTIS 1941 veröffentlichte und er nach der Bombardierung Hamburgs nicht mehr dorthin kam, erscheint wahrscheinlich, dass die Fotografien Anfang der 40er Jahre entstanden, vielleicht auch schon im Sommer 1939 kurz vor Ausbruch des Kriegs. Ehrhardts Fotografien vom Gebiet zwischen Schlei und Eider fügen sich ein in die Zeit von 1938 bis 1940, als er den nordeutschen Raum für seine Bücher über mittelalterliche Skulptur bereiste.