Alfred Ehrhardts Landschaftsfotografien vom Watt, von der Kurischen Nehrung oder von Island sind Fotokennern als wertvolle und seltene Sammlerstücke bekannt. Dass Ehrhardt ursprünglich Musiker, Maler und Kunstpädagoge war, bevor er 1933 von den Nationalsozialisten wegen zu moderner Kunstauffassung entlassen wurde, ist weniger bekannt.
Dabei beruht sein fotografischer Stil, der innerhalb der Fotografiegeschichte der 30er Jahre als einmalig gilt, maßgeblich auf einer künstlerischen Sichtweise, die durch seinen Aufenthalt am Dessauer Bauhaus geprägt wurde. Paul Klee, Oskar Schlemmer und Wassily Kandinsky, bei denen er sich mit Abstraktion, „Ur-Form“ und Archaik oder mit Rhythmus, Dynamik und Kontrapunktik auseinandersetzte, beeinflußten gleichermaßen sein künstlerisches Werk wie seine weltanschauliche Überzeugung. Der Gedanke einer hinter der sichtbaren Wirklichkeit verborgenen kosmologischen Ordnung, die Natur wie Mensch bestimmt, manifestiert sich in den streng durchkomponierten abstrakten Landschaftsbildern der frühen Gemälde wie der nachfolgenden Fotografien.
Angelehnt an Wassily Kandinsky, der seine Arbeit schätzte und unterstützte, fand Ehrhardt sein erklärtes Ziel in der Vergeistigung des Materiellen. Noch deutlicher zeigen sich Parallelen zu Paul Klees Natursicht. Für Klee wie für Ehrhardt ist das Kunstwerk ein organisch gewachsenes Gebilde, in dem sich die Erscheinungsformen der Natur in ihrer ganzen Vielfalt spiegeln. Bei der Beobachtung der gesetzmäßigen Funktions- und Bewegungszusammenhänge in der Natur gehen beide Künstler von der Frage nach der seelischen Ganzheit und dem geistigen Inhalt aus, nach der „Wesenhaftigkeit“ und „Beseelung der Dinge“. Für Ehrhardt wie für Klee verlangt jede Energie nach ihrem Komplement, Bewegung und Gegenbewegung ordnen sich zu sinnvoller Harmonie und werden Funktionen im Bildraum. In der Überzeugung eines umfassenden Weltganzen werden wie im taoistischen Prinzip von Yin und Yang Gegensätze als explizite Zweiheit begriffen, in der eine implizite Einheit zum Ausdruck kommt.
So bildet in vielen Zeichnungen und Gemälden Alfred Ehrhardts die Horizontlinie, an der sich alle anderen Linien ausrichten, nicht nur die bloße Grenze zwischen Oben und Unten oder Himmel und Erde. In der Reduktion auf einige wesentliche Bildelemente, die Meer oder Gebirge andeuten, wird sie zum Symbol der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Beide Dimensionen, die äußere wie die innere, die materielle wie die transzendente, sind miteinander verknüpft. Jenseits bzw. diesseits der Grenze findet jede Bewegung und Form ihre Spiegelung. Der Mond bezeichnet kosmische Kräfte, die sich in der „Bewegung“, den Rhythmen und Zyklen der Natur offenbaren. Das Pendel ist Sinnbild von Erdgravitation und Zentrifugalkraft und gemahnt gleichzeitig an sein Gegenteil: Schwerelosigkeit und Chaos.
Das Bezugssystem von Zeichen und Bedeutungen, das Ehrhardt in seiner vom Bauhaus beeinflußten frühen Malerei entwickelt, findet in den 30er Jahre im Medium Fotografie seine gedankliche und künstlerische Fortsetzung. Die selten gezeigten malerischen Arbeiten bilden die Folie und Voraussetzung des späteren fotografischen Ausdrucks.